Oder: Schweiß ist Schwäche, die den Körper verlässt

Einige beachtliche Titel können wir in unseren bescheidenen Sportlerkarrieren ja schon vorweisen: Schulfußballturniersieger 2011 (Flo), erste Ersatzfrau beim Turn10 Geräteturnbewerb 2008 (Bettina), dritter Sieger beim Fechtweihnachtsturnier 2017 (Flo), USI Kleeblattlauf Finisher (beide), familieninterner Tischtennisweltmeister 2007-ongoing (Flo), Grazathlon Teilnehmer 2022 (beide), Siegerin beim Flavia Solva Römertriathlon in den Disziplinen Bogenschießen, Würfeln und Steinwurf 2004 (Bettina), Gewinner eines Zahnputzcarepakets bei der Skicrosstombola am Kreischberg 2011 (Flo), Absolventin vom Zirkusturnkurs I+II 2002 (Bettina). Dieser illustren Ansammlung von sportlichen Höchstleistungen wollen wir nun noch eine weitere hinzufügen: King of Mountain Taiwan, kurz KOM. Blöd nur, dass man hierfür wirklich was leisten muss.

Aber von Anfang an. Vor zehn Tagen haben wir bei der Recherche für unseren Hehuanshan Besuch das erste Mal beiläufig von KOM erfahren. Eine Radstrecke, die am Strand in Hualien beginnt, durch die Taroko Schlucht führt und nach 100 km und bis zu 27,3% Steigung am Wuling Pass auf 3275 Metern endet. Die Strecke wird oft zu den härtesten Tagesrennen der Welt gezählt und der Rekord dafür liegt bei 3:19 h. Wir wiederholen: Drei Stunden Neunzehn! Aber das war auch ein ehemaliger Tour de France Sieger und kein decathlonrennradbesitzender-0815-zur-Arbeit Radler. Wir können uns jedenfalls nicht vorstellen, wie das überhaupt möglich ist und uns nur zu gut daran erinnern, dass wir den Kopf darüber geschüttelt haben, dass Leute sich sowas antun. Aber das war vor zehn Tagen. Was sollen wir sagen, irgendwie nistet sich KOM in unseren Köpfen ein und, ihr könnt es euch wahrscheinlich schon denken, zwei Tage später wollen wir es auch probieren. Die Organisation wird uns nicht ganz leicht gemacht, vor allem weil unser Chinesisch schnell an seine Grenzen stößt, aber wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Nach mehreren Tagen logistischer Überlegungen organisieren wir uns schließlich Rennräder, Unterkünfte und Verpflegung (also massenhaft Snickers, Bananen und Instantnudeln). Was sich mit unseren finanziellen Mitteln leider nicht spielt sind Rennradschuhe, Radlhosen und ein Begleitfahrzeug. Sprich, unsere Hintern werdens uns nicht danken, wir müssen Rucksäcke mit Proviant, Kleidung und Wasser selbst tragen und die ganze Strecke auch wieder zurück radeln. Obwohl wir versuchen, nur das Nötigste einzupacken, kommen wir, wegen des unvorhersehbaren Wetters und weil es bei unserer Unterkunft auf der Strecke kein Abendessen gibt, um zwei vollgestopfte Rucksäcke nicht herum. Allein deshalb ist eine neue Bestzeit leider außer Reichweite.

Am Tag bevor es losgeht stopfen wir uns also mit so vielen Sesamnudeln wie möglich voll und fahren am Abend mit den frisch ausgeborgten Rädern zu unserer Unterkunft nach Xincheng. Vor dem Schlafengehen recherchieren wir noch ein bisschen und finden das folgende motivierende Zitat über KOM Taiwan, das wir euch natürlich nicht vorenthalten wollen: „If the length doesn‘t get you, the gradient will. If the gradient doesn‘t get you, the humidity will. And if the humidity doesn‘t get you, it‘ll be the altitude.“

Es ist so weit. Tag X. Sechs Uhr. Xincheng am Strand. Showtime. 

Wir sind super euphorisch und bis zum unteren Ende der Taroko Schlucht haben wir fünf flache Kilometer zum Einradeln. Es sollen die letzten flachen Kilometer sein. Die Landschaft ist wunderschön und lenkt uns von der beginnenden Steigung ab. Wir radeln einen türkisen Fluss entlang, immer weiter hinein in die schönste Schlucht, die wir je gesehen haben. Die Felswände sind beeindruckend und wir müssen uns immer wieder selbst daran erinnern, auch auf die Straße zu schauen. Gut, dass die Straße in so einem guten Zustand ist und kaum Autos unterwegs sind. Auch die vielen Reisebusse, die wir erwartet haben laufen uns nicht über den Weg. Wir kommen gut voran und singen und pfeiffen in den Tunnel, die wir immer wieder passieren. Es läuft sogar so gut, dass wir uns beim Gedanken ertappen, die Bestzeit zu knacken. Aber Spaß beiseite, wir genießen die Fahrt wirklich in vollen Zügen und sind überrascht, wie schnell wir bei unserem geplanten Zwischenstopp, beim letzten Supermarkt des Weges, ankommen. Diesmal ist uns das Wetter wohlgesonnen und so können wir unsere Jause bei strahlendem Sonnenschein genießen.

Nach etwa 50 km wird es merklich steiler, die Euphorie lässt langsam nach und Kollege Schmerz macht sich bemerkbar. Die Schenkel beginnen zu brennen. Kennt ihr die Redewendung, dass man ein Körperteil vor lauter Schmerz nicht mehr spürt? Dieses Phänomen ist eine Lüge! Wir warten vergeblich darauf, dass unsere Hintern endlich taub werden, um von den Schmerzen erlöst zu werden. Radlhosen wären vielleicht doch eine gute Idee gewesen. Die vielen Schilder am Straßenrand, die uns anzeigen, wie viele Höhenmeter uns noch bevorstehen, helfen auch nicht wirklich. Wir versuchen es mit allen Tricks, schalten vor jeder Steigung noch mal schnell ein paar Gänge rauf, nur um dann wieder in den Genuss des Runterschaltens zu kommen. Psychologische Kriegsführung also. Trotzdem purzeln die Kilometer immer langsamer. Könnt ihr euch noch an unser Tunnelgepfeiffe erinnern? Damit haben wir schon lange aufgehört. Gefühlt wird es nach jeder Kurve immer noch steiler. Während unsere Trittfrequenz immer weiter sinkt, steigt die Pausenfrequenz und fast all unserer Riegel und Bananen müssen dran glauben. Da können wir wirklich jedes bisschen Motivation brauchen, das wir durch nach oben gestreckte Daumen von vorbeifahrenden Auto- und Motorradfahrern bekommen.

Wegen einer Baustelle gibt es auf der Strecke eine Straßensperre, die nur vier Mal am Tag für jeweils zehn Minuten geöffnet wird. Trotz der Anstrengung sind wir viel besser in der Zeit als gedacht und haben somit die Chance, eine Sperrenöffnung früher als geplant zu passieren. Dies würde auch die Möglichkeit, heute noch bis zum Pass zu fahren, am Leben erhalten. Aber was sollen wir sagen, kurz vor der Sperre streiken unsere Oberschenkel komplett und wir verpassen die Öffnung der Sperre knapp. So werden wir der Möglichkeit beraubt, den Gipfel noch an diesem Tag zu erreichen. Ob wir es überhaupt geschafft hätten, steht auf einem anderen Blatt, aber so haben wir wenigstens eine gute Ausrede. Wir sind zwar ein bisschen von uns selbst enttäuscht, aber in dem Moment überwiegt fast die Erleichterung über eine Zwangspause. Eine eineinhalbstündige Zwangspause. Seid ihr schon mal am helllichten Tag mitten auf der Straße eingeschlafen? Wir schon.

Die schlechte Nachricht: Bettinas Knie beginnt nach der Pause zu schmerzen. Die gute Nachricht: Wir haben es nicht mehr weit bis zu unserer Unterkunft und es geht sogar ein bisschen bergab. Daran, dass wir morgen noch weiter rauf fahren müssen, denken wir heute noch nicht. So beenden wir nach 77 km und 2700 Höhenmeter die erste Etappe nach 6:21 h. Knapp am Rekord vorbeigeschrammt. Und, wie habt ihr euren Ostersonntag so verbracht? 

Der zweite Tag unserer Mission beginnt nicht ganz so optimal. Das taiwanesische Frühstücksbuffet kann uns nicht ganz überzeugen und eigentlich wissen wir auch nicht was wir da gegessen haben. Die Unterkunftsbetreiber versuchen aber alles, damit sich ihre einzigen ausländischen Gäste wohl fühlen. In dem Moment, als wir den Frühstücksraum betreten, schalten sie von traditioneller Volksmusik zu Coldplay um. Wir fühlen uns sehr geehrt.

Zusätzlich haben sich Bettinas Knieschmerzen eher verschlechtert. Man möchte meinen, dass wir genau für solche Fälle seit Monaten unsere sehr gut ausgestattete Reiseapotheke mitschleppen. Tja, was sollen wir sagen, im Moment befindet sich besagte Reiseapotheke in unseren großen Rucksäcken beim Fahrradverleih. Im Nachhinein nicht unser hellster Moment. Weil Bettina so nicht mehr in die Pedale treten kann und umdrehen natürlich keine Option ist, fragt sie bei der Rezeption um Hilfe. Schmerztabletten gibt es zwar keine, dafür wird ihr aber ein Wunderpflaster aufs Knie geklebt. Außerdem bekommt sie Süßigkeiten und Bananen geschenkt. Was will man mehr? Wir sind für die nette Geste zwar sehr dankbar, glauben aber nicht an die heilende Wirkung von Birnenzuckerl und machen deswegen noch einen kleinen Abstecher zur nahegelegenen Polizeistation. Dort scheinen sich der Polizist und seine drei Polizeihunde richtig über unseren Besuch zu freuen und nach ein bisschen Small Talk mithilfe von Google Übersetzer fängt er eifrig an, in einem Kasten zu wühlen. Er findet anscheinend, wonach er sucht und gibt uns schließlich stolz ein Plastiksackerl mit drei losen Tabletten. Ja, jetzt ist es schon soweit, dass wir ungekennzeichnete Tabletten von Fremden einnehmen. So heißt es an dem Morgen viel später als gedacht: back to business. Wir schwingen uns wieder auf die Räder und kämpfen uns Serpentine für Serpentine weiter Richtung Pass. Die Strecke ist heute nochmal deutlich steiler als gestern. Falls ihr euch gefragt habt: Der Polizist hat uns anscheinend das gute Zeug gegeben. Wahrscheinlich etwas, was man in Österreich nur unter ärztlicher Aufsicht einnehmen dürfte. Bettinas Knieschmerzen sind jedenfalls wie weggeblasen und als sehr willkommener Nebeneffekt spürt sie auch den Sattel nicht mehr. Flo ja schon. Mit dem Wetter haben wir wieder richtig Glück und die Aussichten, die sich uns bieten, sind traumhaft. Während der letzten zehn Kilometer müssen wir nochmal 1000 Höhenmeter überwinden. Da spürt man die versprochenen 27% Steigung. Zusätzlich wird die Luft langsam merklich dünner und vor allem bei den steilen Stücken kommen wir mit dem Atmen kaum mehr nach.

Nach einer sehr gemeinen letzten Steigung erreichen wir den Wuling Pass und werden von klatschenden Wanderern empfangen. Kings of the Mountain! Ja, den Titel tragen wir jetzt und würden bei offiziellen Anlässen gerne dementsprechend angesprochen werden. Wir können es gar nicht richtig glauben, dass wir wirklich 3800 Höhenmeter hinter uns gebracht haben. Wir essen noch schnell ein Gipfelbackhendl beziehungsweise eine Instantnudelsuppe, also die typischen Essen auf 3275 Metern, bevor wir uns wieder auf den Rückweg machen. Obwohl es endlich bergab geht, ist die Fahrt alles andere als angenehm. Die Straße ist viel zu steil, um gemütlich runter zu fahren und wir haben immer wieder das Gefühl, jeden Moment vorne überzukippen. Oft fragen wir uns, wie wir da eigentlich raufgekommen sind. Außerdem müssen wir uns wieder beeilen, um rechtzeitig zur Straßensperrenöffnung zu kommen. Dieses Mal schaffen wir es. Eine Radlergruppe, die wir am Weg treffen, macht sich ein bisschen über uns lustig, weil wir mit Rucksäcken und ohne professionelle Radleroutfits unterwegs sind. Als es aber beim Bergabfahren zuzieht und durch den Fahrtwind richtig kalt wird, können wir einfach unsere lange Sachen anziehen. Die Anderen müssen fröstelnd weiterfahren, bis sie auf ihr Begleitfahrzeug treffen. Karma.

Erst nachdem wir am Abend die Räder zurück gegeben haben und mit zwei riesigen Portionen Sesamnudeln im Zug Richtung Taipei sitzen, fangen wir an zu realisieren, dass wir gerade wirklich die KOM Challenge geschafft haben. Insgesamt haben wir 4300 Höhenmeter und 180 Kilometer zurückgelegt. Definitiv zwei der besten Tage unserer bisherigen Reise und wir sind richtig stolz auf uns.

Der nächste Tag ist leider auch schon unser letzter in diesem wunderbaren Land. Allein bei dem Gedanken werden wir ein bisschen wehmütig. Weil wir KOM in den Beinen spüren beschließen wir, nach Beitou zu fahren, um dort unsere müden Muskeln in heißen Quellen zu verwöhnen. Flo wird allerdings gleich mal der Eintritt verwehrt, weil seine Badehose aus keinem regelkonformen Material besteht. Da hat auch diskutieren keinen Sinn und er muss sich eine der schmucken Höschen aus dem angrenzenden Geschäft kaufen. Badehauben, die wir natürlich auch nicht dabei haben, werden uns netterweise geborgt und so genießen wir wenig später, ganz ordnungsgemäß, das heiße Schwefelwasser. Ein herrlicher Ort um zu entspannen. Außerdem amüsieren wir uns köstlich, weil anscheinend sämtliche westliche Badehosen am Eingang abgelehnt werden und so alle männlichen Touristen im gleichen, super stylischen und extrem knappen Hosenmodell herumlaufen. Der Bademodenverkäufer ist auf jeden Fall ein kluger Geschäftsmann.

Am Abend finden wir noch den, unserer Meinung nach, besten Nachtmarkt Taipeis und essen uns ein letztes Mal durch taiwanesische Köstlichkeiten wie Tangyuan und Bao.

Viel zu schnell sind unsere fünf Wochen in Taiwan vergangen. Wir vermissen die unglaubliche Gastfreundschaft, die abwechslungsreiche Landschaft und das leckere Essen dieses wunderschönen Fleckchens Erde jetzt schon und nehmen uns fest vor, auf jeden Fall wieder zu kommen.

Fazit: Radlhosen haben ihre Berechtigung. Taiwanesische Bademeister sind strenger als jeder Türsteher. Wir verlassen Taiwan royaler als wir es betreten haben. Wir kommen wieder!